Thursday, August 28, 2014

Wenn Angehörige in die islamistische Szene abdriften


Jugendliche Islamisten: Demonstration in Frankfurt am Main | Bildquelle: picture alliance / dpa


Stand: 28.08.2014 13:14 Uhr


Junge Männer, die zu radikalen Islamisten werden, gibt es auch in Deutschland. Manche kommen aus Migrantenfamilien, manche aus dem katholischen Bayern. Driften Jugendliche ab, bietet “Hayat” Hilfe. Die Organisation setzt auf die Angehörigen.


Von Barbara Schmickler für tagesschau.de


Daniel Köhler arbeitet für die Organisation “Hayat”. Das bedeutet auf Türkisch und Arabisch “Leben”. Er kümmert sich um die Familien von jungen Menschen, die in die radikal-islamistische Szene abdriften. Warum um die Angehörigen? Sie sind die letzte Hoffnung, mit den Jugendlichen wieder in Kontakt zu kommen und sie zum Aussteigen zu bewegen. “Das erste Ziel ist, die Kommunikation zu intensivieren”, sagt er – und belegt das am konkreten Beispiel eines jungen Deutschen, der in ein Trainingslager für Islamisten nach Ägypten gereist ist – mit dem Ziel, in Syrien zu kämpfen.


Die Frage nach dem Essen brach das Eis


Köhler bereitete die Familie auf die Skype-Gespräche mit dem Sohn im Ausland vor. “Er hat über eine Stunde nur Propaganda von sich gegeben, dann hat die Familie gefragt, was er gegessen hatte – und er fing an, zu erzählen”, erzählt Köhler von einem der ersten Telefonate. Der Sohn habe von den Dschihadisten immer wieder gesagt bekommen, Deutschland sei ein Feind. Reagiere die Familie entsprechend deutlich darauf, breche der Kontakt ab, so Köhler. Schafften es die Angehörigen aber, die radikale Rhetorik auszulassen, könne über die Familie ganz langsam eine Art “Deradikalisierung” stattfinden.


Die emotionale Bindung zwischen der Familie und dem jungen Mann müsse wieder aufgebaut werden. Denn die Familie könne als emotionale Bezugsgruppe gegen das radikale Umfeld stehen, so Köhler.


Dschihadisten aus allen Schichten


Köhlers Organisation wird eher selten von Männern kontaktiert: “Meistens sind es die Mütter oder die Schwestern, die Angst bekommen, dass sie einen Angehörigen verlieren”, sagt Köhler. Dazu gehöre die konservative katholische Familien aus Bayern genauso wie Familien mit Migrationshintergrund. Wissenschaftlerin Daniela Pisoiu vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg bestätigt: “Es gibt kein spezielles Milieu, die Dschihadisten kommen aus allen sozio-ökonomischen und kulturellen Schichten.”



“Sie suchen Abenteuer und wollen sich beweisen”


Verfassungsschützer in Deutschland beobachten die Reisebewegungen Richtung Syrien, die stetig ansteigen: Mehr als 400 Ausreisen mutmaßlicher Islamisten aus Deutschland wurden schon gezählt. Über die Türkei können sie ohne großen Aufwand in das Bürgerkriegsland gelangen. Nach Angaben des Verfassungsschutzes ist ein Drittel – zumindest vorübergehend – nach Deutschland zurückgekehrt, etwa 25 Personen von ihnen mit Kampferfahrung in Syrien.


Die Tendenz: Die Radikalen werden immer jünger, beinahe die Hälfte ist keine 25 Jahre alt. Warum Jugendliche besonders betroffen sind, erklärt Pisoiu im Gespräch mit tagesschau.de: “Sie befinden sich in einer Phase der Identitätssuche, vor allem Männer suchen Vorbilder, Abenteuer und wollen sich beweisen.”


Hotspots: NRW, Berlin, Frankfurt


In Deutschland kommen die meisten jungen Menschen, die sich radikalisieren, aus Nordrhein-Westfalen, Berlin und Frankfurt am Main, berichtet der Verfassungsschutz. Um neue Anhänger zu werben, suchten die Dschihadisten nach den individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen, sagt Köhler. Die Gründe für die Radikalisierung sind vielfältig: Entweder könne der Antrieb ursprünglich positiv sein, wie die Suche nach Gerechtigkeit. Genauso könne er negativ begründet sein durch Familienkonflikte, Perspektivlosigkeit oder Probleme in der Schule. “Genau da setzt Hayat an. Wir müssen das Motiv für die Radikalisierung herausfinden, um helfen zu können”, sagt Köhler.


Woran erkannt man, dass jemand abdriftet?


Eine einzelne Risikogruppe gebe es nicht, so Köhler, aber Schwerpunkte wie männliche Jugendliche, die in der zweiten oder dritten Generation mit Migrationshintergrund in Deutschland lebten.


Woran können Familien erkennen, dass jemand abdriftet? Trage ein junger Mann auf einmal einen Bart und esse kein Schweinefleisch mehr, könne das ein Hinweis sein, müsse es aber nicht. “Die Ideologie erkennt man an der Sprache”, sagt Köhler. “Wenn eine Mutter zum Beispiel ein Glas Wein trinkt und Musik hört und der Sohn dann sagt, dafür kommst Du in die Hölle – dann könnte das ein Anzeichen sein.” Wichtig sei, dem Kind, dem Schüler oder dem Kumpel zuzuhören, zu schauen, ob er bei Facebook Videos von Predigern postet oder die IS-Flagge im Profil zu sehen ist.


Wann ist eine Like bei Facebook bedenklich?


Wer sich unsicher ist, kann sich an Hayat wenden. Dort wissen die Experten, ob der Besuch von bestimmten Moscheen und das Liken von bestimmten Hilfsorganisationen bei Facebook bedenklich sind, oder ob bestimmte Prediger radikal sind oder nicht.


“Damit wir effektiv helfen können, sollten sich Betroffene so früh wie möglich melden”, sagt Köhler. Bei Hayat geht das anonym und kostenlos. Und der Bedarf ist groß: Rund 300 Anrufe gingen seit der Gründung von Hayat 2011 bei der Organisation, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge finanziert wird, ein. Daraus wurden etwa 100 Fälle, knapp 30 mit sicherheitsrelevantem Bezug. Fünf ehemals radikale Menschen sind mittlerweile gar nicht mehr in der extremen Szene unterwegs, “komplett deradikalisiert”, wie Köhler sagt.


Bislang gibt es die Beratungsstelle Hayat nur in Deutschland, das soll sich ändern. In den nächsten Wochen soll Hayat auch in England starten, die Niederlande, Kanada und Australien sollen bald folgen.


Der junge Mann, von dem eingangs die Rede war, hat heute übrigens wieder guten Kontakt zu seiner Familie. Nach Syrien ist er nicht gegangen, sondern in Ägypten geblieben – mittlerweile hat er dort ein Haus gebaut und gehört nicht mehr zu den Fanatikern.




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