Sunday, June 29, 2014

Massaker von Civitella: Das späte Erinnern


Stand: 29.06.2014 05:06 Uhr


Heute vor 70 Jahren töteten Soldaten der deutschen Wehrmacht im toskanischen Civitella 116 Menschen. Erst spät begann in der Stadt die Aufarbeitung des Verbrechens. Zeitzeugen erinnern sich an den Massenmord.


Von Tilmann Kleinjung, ARD-Hörfunkstudio Rom


In einem einzigen Raum steckt die ganze Geschichte eines Ortes. Terzilio Bozzi hat im ehemaligen Gemeindehaus ein kleines Museum eingerichtet. “Hier sieht man Civitella vor dem Krieg”, sagt Bozzi. Der Ort festlich geschmückt mit Wimpeln, die Schüler auf der Straße. “Eine ganz normale Stadt”.


Im Juni 1944 wurde diese ganz normale Stadt auf einem Bergrücken bei Arezzo zur Hölle auf Erden. Es begann am 18. Juni: Vier deutsche Soldaten gehen ins Gemeindehaus, um dort Karten zu spielen. Was dann passiert, ist bis heute nicht ganz geklärt: War es ein geplanter Anschlag oder ein Missverständnis? Partisanen eröffnen das Feuer auf die Wehrmachtssoldaten.


“In diesem Lokal wurden die drei deutschen Soldaten getötet”, sagt Bozzi. “Wo ich jetzt stehe, da war die Bar, hinter der sich der dritte Deutsche versteckte, schwer verletzt, er starb dann später.”


Die Bewohner flüchteten zuerst in die Umgebung


Der vierte Soldat konnte fliehen und alarmierte seine Vorgesetzten. Als das passierte, war Vittoria Lammioni drei Jahre alt. Ihr Vater arbeitete als Beamter in der Gemeinde. “Meinem Vater wurde gesagt und dabei hat man ihm eine Pistole an die Schläfe gedrückt, dass er innerhalb von 24 Stunden die Namen der Partisanen zu nennen habe, die an dem Mord beteiligt waren”, sagt Lammioni.


Vittorias Vater schweigt und die Bewohner befürchten das Schlimmste. Die meisten sind zu Verwandten in der Umgebung geflohen. Doch überraschenderweise geschieht erst einmal nichts. Die Deutschen verzichten auf Druck und Repressalien und lassen über den Pfarrer den Bürgern von Civitella ausrichten, sie könnten ruhig in ihre Häuser zurückkehren. Es ist der 29. Juni, ein hoher Feiertag, “Peter und Paul”.


“Um sieben Uhr morgens läuteten die Glocken für die Messe”, sagt Ida Balò. “Meine Mutter ist hingegangen, ich war noch im Bett und hörte auf einmal Schüsse. Ich war überzeugt: Das sind endlich die Engländer.” Doch statt der Alliierten Truppen ist eine Einheit der Fallschirm-Panzer-Division “Hermann Göring” nach Civitella gekommen, um Rache zu nehmen.


“Sie haben alle umgebracht”


Auf dem Platz vor der Kirche in Civitella erzählt die heute 83-jährige Balò, was sie damals erlebte. “Hier stand eine Reihe von Maschinengewehren, die auf die Kirche gerichtet waren, einige Soldaten lachten. Und hier auf dem Kirchplatz wurde aufgeteilt, wie in den Konzentrationslagern, die Männer nach rechts und die Frauen nach links.”


Das war das Todesurteil. Die meisten erwachsenen Männer von Civitella starben an diesem 29. Juni 1944. Auch der Vater von Ida Balò. “Sie haben alle umgebracht”, sagt die Tochter. “Danach wurden die Leichen in die Eingänge der Häuser gebracht, weil sie verbrannt werden sollten. Das war das Schlimmste, die größte Barberei, wie diese zerrissenen Körper über die Erde geschleift wurden.”


50 Jahre Schweigen


Nach dem Krieg breitete Civitella einen Mantel des Schweigens über dieses Massaker. Die Trauer war zu groß und die Schuldfrage umstritten, sagt die Bürgermeisterin Ginetta Menchetti. “50 Jahre lang gab es in Civitella eine gespaltene Erinnerung”, sagt sie. “Weil ja zuvor die Deutschen von den Partisanen getötet worden waren. Deshalb waren einige Bewohner der Meinung, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem 29. Juni und dem 18. Juni gibt”


Heute weiß man: Die deutschen Truppen hatten das Massaker strategisch und langfristig geplant. Als Schlag gegen die in den Bergen um Civitella aktive Partisanenbewegung. 50 Jahre nach dem Verbrechen öffnete dann endlich auch die italienische Justiz ihre Archive, und der Massenmord von Civitella kam vor Gericht. Im Jahr 2011 verurteilte ein Militärgericht in Verona den letzten noch lebenden Soldaten der verantwortlichen Wehrmachtsdivision in Abwesenheit zu lebenslanger Haft.




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