Soma – “Die Zeit läuft gegen uns” – das sagt der türkische Energieminister Taner Yildiz nach dem schweren Unglück in einem Bergwerk im westtürkischen Soma. Mindestens 201 Kumpel starben, als am Dienstagnachmittag ein Umspannwerk explodierte und in Brand geriet. Viele Menschen sind noch unter Tage eingeschlossen. Rettungskräfte suchen fieberhaft nach Überlebenden.
Yildiz ist an den Unglücksort in der Provinz Manisa geeilt. Er erklärte, die Rettungsbemühungen hätten einen “kritischen Punkt” erreicht – mit jeder Minute, die vergeht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Eingeschlossenen nicht überleben.
80 Minenarbeiter seien verletzt, vier von ihnen lebensbedrohlich. 360 Arbeiter konnten in Sicherheit gebracht werden. Nur vereinzelt wurden am Mittwochmorgen Überlebende über Tage gebracht, viele von ihnen hatten Rauchvergiftungen und konnten kaum atmen. Dutzende Sicherheitskräfte waren im Einsatz, um Gassen für die Rettungsfahrzeuge freizuhalten.
Beim Schichtwechsel am Dienstagnachmittag sollen sich geschätzt 780 Männer in der Grube befunden haben, als sich rund 400 Meter unter Tage die Explosion ereignete. Der Strom fiel aus, die Aufzüge und die Luftzufuhr für die Arbeiter funktionierten nicht mehr.
In einer Tiefe von 2000 Metern waren Hunderte gefangen – etwa vier Kilometer vom Grubeneingang entfernt. Für die Opfer und die Retter begann der Wettlauf gegen die Zeit, den viele in dieser Nacht verlieren sollen.
Die Rettungskräfte versuchten, Atemluft in den Schacht zu blasen. Aus Sicherheitskreisen vor Ort verlautete, es hätten sich zwei Luftblasen gebildet. Zu der einen hätten die Bergungskräfte Zugang. In der anderen seien die Kumpel aber von jeder Hilfe abgeschnitten.
Bangende Angehörige vor Ort
Vor dem Eingang zum Bergwerk und vor dem Kreiskrankenhaus von Soma haben sich die Verwandten der Eingeschlossenen versammelt. Sie versuchen verzweifelt, Neuigkeiten über ihre Väter und Söhne zu erfahren. “Seit dem frühen Nachmittag warte ich nun schon,” sagt Sena Isbiler, die Mutter eines Bergarbeiters. “Bisher habe ich noch nichts gehört.”
Die Behörden haben vier Rettungsteams in die Grube geschickt, die versuchen, den Brand unter Tage zu löschen und die eingeschlossenen Bergarbeiter mit Frischluft zu versorgen. Das ganze Land fiebert mit und hofft auf gute Nachrichten. Im Fernsehen sorgt ein Experte für wütende Reaktionen der Zuschauer, als er die Folgen einer Monoxid-Vergiftung unter Tage als “süßen Tod” bezeichnet, bei dem der Betroffene keinerlei Schmerzen spüre.
Die Menschen in der Stadt sind schockiert – bei einigen macht sich bereits Wut auf die Behörden breit. Die Grube in Soma ist einer der größten Arbeitgeber der Region in der Provinz Manisa. Rund 6500 Kumpel arbeiten hier.
Tragischer Unfall oder Massaker aus Profitgier?
Behörden und Grubenleitung sprechen von einem tragischen Unfall und betonen, das privat betriebene Bergwerk sei erst kürzlich kontrolliert worden. Das türkische Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit erklärte, die Grube sei zuletzt am 17. März auf Sicherheitsmängel untersucht worden und es habe keine Beanstandungen gegeben.
Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel groß. “Es gibt hier keine Sicherheit”, sagt der Arbeiter Oktay Berrin in Soma. “Die Gewerkschaften sind nur Marionetten, und die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld.”
Die Oppositionspartei CHP war erst vor wenigen Wochen im Parlament von Ankara mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen: Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab. Kritiker werfen der Regierung vor, bei der Privatisierung vieler ehemals staatlicher Bergbaufirmen in den vergangenen Jahren die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen ignoriert zu haben.
Für den linken Gewerkschaftsbund DISK ist das Unglück von Soma deshalb ein “Massaker”, wie der Vorsitzende Kani Beko sagt. In Gruben wie in der von Soma seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden außer Acht gelassen: “Es geht nur um den Gewinn.”
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte eine Auslandsreise ab und kündigte sich am Unglücksort an. Auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu will nach Soma reisen.
Grubenunglücke sind in der Türkei keine Seltenheit. Mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen sowie fehlende Kontrollen in Bergwerksbetrieben haben in den vergangenen Jahren immer wieder zu schweren Unglücken beigetragen. Der bislang schlimmste Unfall ereignete sich 1992 in einer Mine in Zonguldak. Dabei waren nach einer Gasexplosion 263 Kumpel ums Leben gekommen.
Hunderte Tote in der Türkei: Gewerkschaft nennt Grubenunglück "Massaker"
No comments:
Post a Comment