Sonntag, 21. September 2014
Frühchinesisch, Computerkurs, anschließend Geige üben – der Alltag vieler Kinder ist voll gepackt mit Bildungsangeboten, die ihnen den Zugang zur Wissensgesellschaft erleichtern sollen. Doch wie verträgt sich das mit der tatsächlichen Entwicklung von Menschenkindern? Nicht besonders gut.
Kinder großzuziehen hat sich zu einem Riesenprojekt entwickelt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Kleinen einfach draußen oder drinnen spielten, geliebt wurden, regelmäßige Mahlzeiten bekamen und sonntags in die Badewanne gesteckt wurden. Die Welt heute scheint ganz andere Anforderungen zu stellen, auf die Kinder natürlich vorbereitet werden müssen.
Aber ist das tatsächlich so? Und wenn ja, wie geht das am besten? In ihrem Buch “Wie Kinder heute wachsen” schauen die Autoren Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther zunächst einmal auf die zahlreichen Mängel, mit denen Menschenkinder geboren werden. Unreif und schwach, weder in der Lage sich zu bewegen noch sich selbstständig zu ernähren, da stehen die meisten Tierbabys besser da. Doch überraschenderweise werden aus diesen Mängelwesen am Ende Erwachsene, die Flugzeuge steuern, selbst Eltern werden oder Facebook erfinden. Der Hirnforscher Hüther und der Kinderarzt Renz-Polster kommen zu dem Schluss, dass dies dann am besten funktioniert, wenn Kinder die Natur als Entwicklungsraum haben.
Damit meinen sie vor allem die tatsächliche Natur, also Bäume, Wiesen, Erde und Bäche, aber auch das, was Kinder allgemein umgibt, den Kindergarten, die Schule, den Weg dorthin, die Freifläche neben dem Haus. Dass autonom und unbeaufsichtigt frei spielende Kinder gut sind, ist längst unstrittig, und doch kommen die wenigsten Kinder in diesen Genuss. Allenfalls beim Lesen haben Tom Sawyer und Pippi Langstrumpf elternfreie Zeiten. Das liegt daran, dass Kindheit inzwischen durchorganisiert ist wie ein Managertag. Ohne Förderung und Bildung ist schließlich in der Wissensgesellschaft kein Blumentopf zu gewinnen. Außerdem ist es draußen wahnsinnig gefährlich, die Bäume oder Mauern sind hoch, die Autos schnell, da ist es doch besser, die Kinder beschäftigen sich sicher im Haus. Dort muss man sie dann allerdings vor den Gefahren der Medien und natürlich besonders vor Computer und Co. bewahren.
Gegen den Frühförderwahn
Renz-Polster und Hüther wissen, mit welchen Bedenken sich Eltern herumschlagen. Doch sie halten mit einer einfachen Wahrheit dagegen. Das, was viele Jungen und Mädchen inzwischen als Kindheit erleben, reicht nicht, um ihnen Zugang zu all ihren Möglichkeiten zu geben. Wer auf Frühchinesisch setzt, übersieht, dass es ganz andere Dinge sind, die uns menschlich, kreativ und damit auch leistungsfähig machen. Egal ob in Hamburg oder Honolulu muss jeder kleine Mensch am Beginn seines Lebens fundamentale Lebenskompetenzen erwerben, selbstständig werden. Dafür ist es wichtig, mit sich selbst und seinen eigenen Emotionen klarzukommen.
Es ist aber auch notwendig, sich Ziele zu setzen und deren Erreichen mit Kraft und Ausdauer zu verfolgen. Das wiederum geht nicht ohne andere Menschen, deren Gefühle und Absichten man verstehen muss, um Teil der Gruppe werden zu können. Und nicht zuletzt sollte man gelernt haben zu verkraften, dass nicht alles immer klappt. Was banal klingt, gehört als “Kreativität”, “exekutive Kontrolle”, “soziale Kompetenz” und “Resilienz” zu den Grundlagen des Menschseins. Genau diese Fähigkeiten kann man aber nicht gelehrt oder vermittelt bekommen, man muss sie sich abschauen und man kann sie nur dann erwerben, wenn man Erfahrungen aller Art macht.
Dafür braucht das menschliche Gehirn jede Menge Input. Genau den bekommt es, wenn Kinder klettern, matschen oder träumen. Den bekommt es auch, wenn Kinder eine Bande gründen und aushandeln, wer der Chef ist, und sei es nur für diesen Nachmittag. Den bekommt es, wenn Kinder von der Mauer springen und den Weg zum Bäcker allein gehen.
Kaum ein Elternteil könnte ertragen zuzusehen, wenn die Kinder das täten, was sie selbst als Kinder so angestellt haben. Fast möchte man ihnen zurufen, so ist das eben auch nicht gedacht. Es macht keinen Spaß unter Aufsicht Äpfel aus dem Garten des Nachbarn zu holen. Aber es macht riesigen Spaß, wenn Kinder das untereinander aushecken und am Ende mit einer Handvoll halbwegs reifer Früchte irgendwo sitzen und sich die Beute schmecken lassen. Was sie von diesem Unternehmen haben, ist weit mehr als nur ein paar Vitamine. Sie erwerben jede Menge Wissen, entwickeln ihre Kreativität weiter, üben Beharrlichkeit und gewinnen Vertrauen, sie knüpfen Bindungen und spüren Mitgefühl.
Lernspiele und Apps sind zu wenig
Sie sind ein bisschen mehr der Mensch geworden, der sie am Ende sein werden. Und sollen die Kinder denn nun gar keine Computer benutzen? Auch auf diese Frage finden Renz-Polster und Hüther eine durchaus differenzierte Antwort. Zunächst einmal brauchen Kinder verlässliche Beziehungen, sagen die Autoren und empfehlen ansonsten einen kritischen Blick auf Tempo und Rollenbilder der digitalen Spielwelten. Richtig sauer werden sie allerdings, wenn die Computernutzung in Kindergärten oder gar Krippen als Lern- oder Entwicklungsvorteil gepriesen werden. “Elektronische Medien in Kindergärten und Krippen sind keine Lehrmittel – sondern die trojanischen Pferde der Medien- und Computerindustrie.” Kein elektronisches Medium macht ein Kind emotional, sozial, kognitiv oder körperlich kompetenter. Kein Kind wird am Computer kreativer, seelisch stabiler oder ein bisschen mehr es selbst.
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Je jünger die Kinder sind, umso mehr sind elektronische Medien Beziehungskiller und damit sogar Entwicklungshemmnisse. Doch nur in Beziehungen zu echten Menschen und einer echten Umwelt können sich Kinder entwickeln. Darum kommen Hüther und Renz-Polster auch zu dem Schluss, dass hinter den meisten “Medienproblemen” problematische Beziehungen stehen, und ermutigen Eltern vor allem in die Beziehungen zu ihren Kindern zu investieren. “Fragt man Eltern, die sich über den exzessiven Medienkonsum ihrer Kinder beklagen, wie es ihrem Kind so eigentlich geht, was es so in seinem Leben macht und beschäftigt, so zucken viele die Achseln – sie wissen es einfach nicht. Genau das ist das Problem.”
“Wie Kinder heute wachsen” ist kein Früher-war-alles-besser-Buch, sondern eine gleichermaßen unterhaltende wie kluge Darstellung darüber, was Hirnforscher und Ärzte heute über das Wohlergehen und Lernen von Kindern denken. Aber es ist auch eine Warnung zu sehr auf die kognitive Optimierung des Nachwuchses zu setzen. Denn genau das könnte am Ende zu weit weniger wirtschaftlich verwertbaren Kompetenzen führen, als viele erwarten.
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Quelle: n-tv.de
Lernen, Fühlen, Denken: "Wie Kinder heute wachsen"
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